Meine Geschichte 2009/3

2009/3

Genau so doof fand ich, was meiner Ma Anfang Oktober passierte. Sie stolperte im Parkhaus, und anstatt ihre vollgepackte Sporttasche und den Autoschlüssel fallen zu lassen, versuchte sie im Vorwärtsfallen beides hoch zu halten und stattdessen mit dem Gesicht zu bremsen. :o( Unglücklicherweise fiel sie aber auch auf die Hand, in der sie die Schlüssel gehalten hatte, und zog sich dabei zahlreiche Haarrisse und Prellungen zu. So wurde aus dem Wunsch meiner Mutter, die Nachtversorgung früher oder später komplett an den Pflegedienst abzugeben, unweigerlich ein Früher. Praktisch über Nacht musste mein Zubettkommen allein von den Mitarbeiterinnen des Pflegedienstes übernommen werden. Die Organisation war mit Sicherheit schwierig, sehr schwierig, aber sie haben es immer irgendwie möglich gemacht. Um meine tägliche Nachtversorgung auch gewährleisten zu können, mussten Nadine und Melanie so schnell wie möglich im …oder besser am Bett eingearbeitet werden. Das klappte überraschend gut, denn mein Pflegedienst hatte die Dienstpläne umgestellt, so dass jetzt eine Mitarbeiterin an mehreren Abenden hintereinander zu mir kam. Dadurch konnten Nadine und Melanie immer von derselben Person angelernt werden, was sowohl die Einarbeitungszeit als auch die allgemeine Verwirrung durch unterschiedliche Erklärungsansätze reduzierte. :o) Ende Oktober bekamen wir Besuch von meiner Tante und meinem Onkel aus Bayern. Sie blieben ein paar Tage in Wolfsburg und nahmen anschließend meine Mutter über ihren Geburtstag mit zu sich an den schönen Chiemsee. Diese Urlaubswoche war allerdings nicht nur für meine Mutter sehr erholsam, sondern auch für meine Schwester, die in der Zeit bei mir übernachtete. Mehrere Nächte hintereinander ohne Babygeschrei durchschlafen zu können, war für Nina wie Urlaub. :o)

Mittlerweile war Luca dann doch zum Krabbeln übergegangen und einige Wochen später machte er sogar schon seine ersten Schritte. Dadurch wurde es noch schwieriger, den kleinen Schelm im Auge zu behalten. Genau wie Moritz fand er Telefone, Handys, Fernbedienungen, jede Art von Schaltern oder Knöpfen, meine Magneten am Kühlschrank sowie Wasser faszinierend. Alles wurde angesabbert, in Windeseile in sämtliche Einzelteile zerlegt oder heimlich still und leise gedrückt. Dabei schaute Luca derart unschuldig aus, als könnte er kein Wässerchen trüben. Aber Luca hatte noch ganz andere Leidenschaften – er liebte es sauber zu machen. Kein Besen oder Swiffer war vor ihm sicher. Ich fand das äußerst amüsant, hatte jedoch auch meine Zweifel: Welcher Mann macht schon gerne sauber? Meine Skepsis wuchs, als Nina mir erzählte, dass Luca vor Schuhgeschäften regelrechte Kreischanfälle bekommt. Ein Mann, der putzt und auf Schuhe steht, wo gibt’s denn sowas? Naja, wer weiß, welche Leidenschaften er in den nächsten Jahren noch für sich entdecken wird. Ich befürchte, dass das Quatschen wohl dazu gehören wird. Schon jetzt war er eine kleine Labertasche, und das, obwohl er noch gar nicht richtig sprechen konnte. :o) Zunächst hatte er jede seiner Handgestiken mit einem lauten „dong“ untermauert, so dass wir dachten, er wird ein kleiner Chinese. Danach kam er jedoch in seine amerikanisch geprägte „this“-Phase, die wiederum nahtlos in ein undefinierbares Kauderwelsch überging. Mirko machte sich einen Spaß daraus, Luca mit irgendwelchen ausgedachten Sätzen anzusprechen, die wie eine Mischung aus Chinesisch, Russisch, Arabisch und Außerirdisch klangen. Der Knaller war, dass Luca voll darauf reagierte und ihm jedes Mal zu antworten schien. Vater und Sohn verstehen sich eben immer, egal in welcher Sprache und manchmal sogar ganz ohne Worte.

Auch mir fehlten im Verlauf des Novembers ein paar Mal die Worte und ich war einfach nur sprachlos. Immer öfter bekam ich Post von Schülern, Eltern und Lehrern, die mir begeistert berichteten, dass sie bzw. ihre Kinder mein Buch im Schulunterricht behandeln. Ob in Deutsch, Werte und Normen oder Religion, ich war ein Teil des Unterrichts. Irgendwann schrieb ein Schüler in mein Gästebuch, er lese gerade in der Schule mein Buch und müsse ein Referat über mich halten. Ich dachte zunächst: „Na toll, jetzt bin ich schon das Synonym für die ALS“, aber dann las ich weiter und stellte fest, dass es in dem Referat tatsächlich um meine Person ging und nicht um die ALS. Cool! :o) Wenn mir jemand vor ein paar Jahren gesagt hätte, dass ich mal neben berühmten Persönlichkeiten Thema im Schulunterricht sei, hätte ich vermutlich laut gelacht und ihn für total verrückt erklärt. Das Leben ist eben doch eine Wundertüte. Wunderlich ging es auch weiter – wieder einmal musste eine neue Mitarbeiterin eingearbeitet werden. Madlen war etwa Mitte zwanzig, im Grunde auch sehr nett, aber irgendwie auch sehr eigen. Sie hatte zum Beispiel die Angewohnheit, ständig „Entschuldigung“ zu sagen, unabhängig davon, ob sie mich ausversehen anstieß, meine Arme runterfielen, mein Bein zu zittern begann, ob sie gegen den  Tisch, den Türrahmen oder das Bett lief, sich an meiner Liege das Schienbein stieß, ob sie ausversehen einen Stift, Besteck oder meinen Trinkbecher fallen ließ, sie ihrer Meinung nach zu laut lachte oder einen spontanen Kommentar zum laufenden Fernsehprogramm abgab. Wenn ich mich bei jedem versehentlichen Körperkontakt oder ungewollten Geräusch entschuldigen würde, ginge es bei uns zu wie auf einem Tennisplatz, denn wir wären permanent damit beschäftigt, uns beim jeweils anderen zu entschuldigen. Ähnlich war es mit dem Wort „Danke“. Ich war ja pausenlos gezwungen, meine Mädels um alles Mögliche zu bitten, und nur allzu oft wurde mein Bedanken als Aufforderung verstanden, noch etwas für mich zu erledigen. Ich weiß nicht, wie viele Male ich minutenlang versucht habe zu erklären, dass ich nur „Danke“ sagen wollte. Dasselbe erlebte ich immer wieder, wenn meine fleißigen Helfer Pause machten und etwas aßen. Ich wünschte einen Guten Appetit und schwupp, schon war ich wieder in dem allseits beliebten Ratespiel gefangen. :o)

Im Laufe der Zeit habe ich jedoch dazu gelernt und verkniff mir mittlerweile in vielen Situationen, bestimmte Worte oder sogar ganze Sätze. Das war manchmal gar nicht so einfach, denn erstens bin ich grundsätzlich ein höflicher Mensch und zweitens bin ich eine Frau. Wie alle Frauen hatte auch ich einen großen Redebedarf, ich war so voller Worte, die ich nicht loswerden konnte, dass ich das Gefühl hatte, irgendwann an ihnen zu ersticken. Hin und wieder sprudelten sie dann unkontrollierbar aus mir heraus – zum Leidwesen meiner Pflegekräfte meistens abends, nachdem ich bereits meine Schlaftabletten eingenommen hatte. :o) Wenn ich dann so vor mich hin plapperte und durch die Wirkung der Tabletten noch schlechter zu verstehen war als ohnehin schon, wurde mir sehr oft meine Lieblingsfrage gestellt: „Ist das denn jetzt wirklich wichtig?“ Nein, ist es nicht, aber ich muss das jetzt erzählen, sonst kann ich die ganze Nacht nicht schlafen. Außerdem ist garantiert 99 % allen Geredes weltweit unwichtig und ich glaube, wenn jeder Mensch nur das aussprechen dürfte, was wirklich wichtig ist, dann wäre es ganz schön leise auf der Welt. Aber im Grunde hatten sie ja Recht, ich musste mich, allein schon um das Risiko zu minimieren mich falsch zu verstehen, auf wenige Worte beschränken. Auch wenn es keinen Spaß machte, ständig nur Ein- oder Zwei-Wort-Anweisungen zu geben, war es der sinnvollere Weg. Irgendwann habe ich Marion mal freundlich und in einem vollständigen Satz gebeten, meinen Sofatisch weiter nach rechts rüber zu schieben. Marion war nach der zehnten Wiederholung meiner Bitte schon ganz verzweifelt, weil sie natürlich wissen wollte, was ich von ihr möchte. Da entschied ich zu drastischeren Mitteln zu greifen und sagte laut und deutlich „Tisch rüber“! Marion strahlte über das ganze Gesicht und antwortete lachend: „Das verstehe ich, vielleicht solltest du immer im Befehlston mit mir sprechen.“ Was?, laut, deutlich und im Befehlston – das sind ja gleich drei Wünsche auf einmal. Ich bin doch kein Überraschungs-Ei. :o)

Der November hatte aber noch mehr Überraschungen parat. Neben anderen großen Fernsehformaten, wollte auch ein Fernsehteam für die ARD–Sendung Brisant einen Bericht über mich, die ALS und mein Buch drehen. Antje Rhode von der Firma Novo Film war mit ihrem Team für einen ganzen Tag bei mir, um meinen pflegerischen Alltag, meine Therapien und meine Arbeit am Laptop zu filmen. Weiterhin war ein Interview mit mir geplant, dass später mit Untertitel ausgestrahlt werden sollte. Interview–Situationen sind für mich immer besonders anstrengend und stressig, weil ich nur allzu gut weiß, wie schwer ich zu verstehen bin und wie gequält ich beim sprechen aussehe. Glücklicherweise war aber meine Pflegerin Stephanie an meiner Seite, um mein Gerede zu übersetzen oder zu erklären. So war das lange Interview viel leichter für mich zu ertragen – Danke Steffi :o) Am Ende des Tages waren wir alle ziemlich platt, aber auch glücklich, dass Antje und ihr Team so nett waren und alle Aufnahmen so wunderbar geklappt haben. In den folgenden Tagen schnitt Antje „das Stück“ zurecht, sprach den Text ein und untertitelte mein Interview. Anfang November war das Prunkstück fertig und wurde bei Brisant ausgestrahlt. Antje hat einen tollen Bericht gemacht, er war einfühlsam, hatte genau die richtige Mischung aus Emotionalität und Information und strahlte viel Harmonie aus – Brisant Sendung ansehen. Genauso brisant ging es in den folgenden Wochen weiter. Kerstin hatte sich wieder umentschieden, dieses Mal wollte sie ihre Stunden erneut reduzieren. Außerdem wollte sie an keinem Wochenende und keinem Feiertag mehr arbeiten und auch das wöchentliche Duschen war ihr zu anstrengend geworden und sie wollte es ab Februar nicht mehr übernehmen. Na das waren ja tolle Aussichten – zum Glück gibt es ja noch kein Geruchsfernsehen…und von mir aus kann der Fortschritt auf diesem Gebiet auch noch ein bisschen auf sich warten lassen!

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