Meine Geschichte 2006/1
2006/1
Anfang Januar las ich im Gästebuch von Mario Gräser den Eintrag eines ebenfalls von ALS betroffenen Paares aus dem Allgäu. Sie suchten Hilfe und ich nahm einfach mal Kontakt mitAndreasauf. Seine Lebensgefährtin Carola hatte erst vor kurzer Zeit die Diagnose ALS bekommen. Allerdings hatte sie einen schlimmen Leidensweg hinter sich und musste viele Untersuchungen, Fehldiagnosen und demzufolge auch falsche Behandlungen über sich ergehen lassen. Wir haben uns fast täglich per Mail ausgetauscht und ich habe versucht, ihnen mit meiner Erfahrung zu helfen und Mut zu machen. Es war ein schönes Gefühl, nicht immer nur selbst Hilfe zu brauchen, sondern auch mal wieder anderen helfen zu können! Unser Kontakt war von Anfang an sehr offen, persönlich und ehrlich. Ich habe mich darauf gefreut, vielleicht bald mit Carola direkt kommunizieren zu können, denn Andi wollte ihr eine Computersteuerung und eine Softwaretastatur besorgen. Doch plötzlich passierte das, was ich zwar schon oft von anderen Betroffenen gehört oder gelesen hatte, aber nie zuvor wurde ich mir dabei der Lebensgefahr der ALS derart bewusst. Innerhalb kürzester Zeit war die Schluckmuskulatur weg und eine Lungeninfektion folgte. Da die Muskulatur zum Abhusten des Sekrets zu schwach war, musste nach etlichen Bronchioskopien die schwierigste Entscheidung überhaupt gefällt werden. Carola entschied sich für einen Luftröhrenschnitt! Sie wurde kurzfristig intubiert und bekam anschließend ein Tracheostoma eingesetzt. Ich war geschockt! Bei meinem langsamen Verlauf wähne ich mich zwar in der trügerischen Sicherheit, dass es immer so weitergeht, aber auch bei mir könnten natürlich plötzliche Veränderungen zu einer solchen lebensbedrohlichen Situation führen. Ich versuche diesen Gedanken so gut es eben geht zu verdrängen und positiv zu denken. Da ich mich in einer vergleichbaren Situation wahrscheinlich gegen einen Luftröhrenschnitt entschieden hätte, wurde mir einmal mehr bewusst, wie wichtig eine Patientenverfügung ist. Ich möchte schon seit einigen Jahren eine Patientenverfügung in Verbindung mit einer Vorsorgevollmacht aufsetzen. Aber leider ist dieser Wunsch bisher unerfüllt geblieben. ;o(
Kurz darauf meldete sich ein ehemaliger Arbeitskollege meines Vaters bei mir, denn auch er hatte kurz zuvor die Diagnose ALS erhalten.Andreasist ebenfalls erst Anfang 40 und hat noch drei kleine Kinder. Ich verstehe das nicht! Es wird immer behauptet, relativ junge Betroffene wären eher eine Ausnahme. Wenn ich aber im Internet auf den verschiedenen Websites die Gästebucheinträge anderer Betroffener lese, sind die meisten Erkrankten zwischen 30 und 50. Zudem habe ich das Gefühl, dass immer mehr Menschen an ALS erkranken. Oder bin ich nur sensibler für dieses Thema geworden? Bis zu meiner eigenen Erkrankung habe ich nichts, aber auch gar nichts von der ALS gehört. Natürlich kannte ich Stephen Hawking und sein Schicksal, an welcher Nervenerkrankung er leidet, wurde mir jedoch erst nach meiner eigenen Diagnose bewusst. Wahrscheinlich hat dieser Moment meine gesamte Wahrnehmung verändert. Und nicht nur das, auch meine Einstellung zu verschiedenen Dingen hat sich komplett verändert. Zum Beispiel bin ich momentan etwas irritiert von der erneuten Aufregung und Diskussion um die passive Sterbehilfe. Ich bezweifle, dass ein gesunder Mensch beurteilen, geschweige denn verstehen kann, was einen kranken Menschen dazu bewegt, die Hilfe der Dignitas in Anspruch zu nehmen. Auch ich selbst war immer gegen Sterbehilfe. Mittlerweile denke ich aber etwas anders darüber. Warum darf ein gesunder Mensch seinem eigenen Leben jederzeit ein Ende setzen, ein todkranker Mensch aber nicht? Ist die Aussicht, bald sterben zu müssen, kein ausreichender Grund, sterben zu wollen? Ich denke, jeder mündige Mensch sollte das Recht haben, frei über sein eigenes Leben entscheiden zu können. Niemand macht sich so eine Entscheidung leicht, aber wenn sich jemand für diesen Weg entschieden hat, dann sollte er ihn auch gehen dürfen. Ich habe mich über die Angebote der Dignitas informiert und entschieden, dass es keine Alternative für mich ist. Natürlich wäre ich bereit für ihre Hilfe zu zahlen, aber die ständige Forderung nach Spenden und Mitgliedschaften hat mich ziemlich abgeschreckt. Ich glaube, ich wollte mir auch nur die Möglichkeit verschaffen, zu einem Zeitpunkt meiner Wahl frei über das Ende meines Lebens entscheiden zu können. So wie jeder gesunde Mensch seinem Leben ein Ende setzen kann, wenn er will. Das verzweifelte Gefühl, als kranker und darüber hinaus noch vollkommen hilfloser Mensch diese freie Wahl nicht mehr treffen zu können, ohne einen anderen Menschen an den Rand der aktiven Sterbehilfe zu bringen, ist wohl das eigentliche Problem. Wie viele alte Menschen hatten früher eine Kapsel Zyankali, ohne sie jemals zu nehmen! Aber das Gefühl sie zu haben gab Sicherheit und nahm ihnen die Angst.
Im Übrigen wundert es mich nicht, dass in den Wintermonaten die Zahl der Selbsttötungen ansteigt. Dieses fiese Wetter und die Dunkelheit schlagen einem wirklich aufs Gemüt. Ich war im September das letzte Mal richtig draußen und ich könnte langsam wieder etwas Abwechslung gebrauchen. Durch meinen immer gleichen Tagesablauf sind meine Tage relativ eintönig und die einzige Abwechslung sind die Gespräche mit Kerstin, Tina und meinen Therapeuten. Weil ich jeden Tag für etwa zwölf Stunden an derselben Stelle sitze bzw. sitzen muss, ist auch meine Aussicht und meine Perspektive immer dieselbe. Zudem esse ich aus Gründen der Einfachheit seit sechs Jahren morgens oft das gleiche Müsli bzw. Brötchen. Um trotzdem hin und wieder etwas Abwechslung zu haben, kaufe ich mir neue Klamotten oder CDs, die ich eigentlich nicht wirklich brauche. Oder ich bestelle bei Tchibo Sachen, die mir gefallen, um sie irgendwann zu verschenken. Aber so habe ich wenigstens noch das Gefühl, am Leben teilzuhaben. Wenn ich nicht mehr in den Laden gehen kann, muss der Laden eben zu mir kommen! Ich glaube meine Eltern sind mittlerweile schon per du mit unserem Paketzusteller! ;o) Sicher wäre es schön, mal wieder in die Stadt zum Shoppen fahren zu können, aber solche Aktivitäten sind eben nicht nur schön, sondern auch schön anstrengend! Daher habe ich die Abwechslung lieber bei mir zu Hause. Dementsprechend habe ich mich auch sehr über den Besuch von Kerstin, Olli und Moritz gefreut. Moritz ist echt süß und ein richtiger Wonneproppen. Irgendwie scheint ihn meine Gegenwart zu inspirieren, denn er macht dann Sachen, die er laut Aussage seiner Eltern sonst nie so macht. Während er letztes Mal friedlich schlief anstatt wie sonst zu schreien, wollte er mir dieses Mal demonstrieren, wie toll er schon pupsen kann! ;o) Dazu lehnte er sich auf Kerstins Schoß plötzlich richtig weit nach vorn, presste seinen Kopf an ihre Brust und streckte den Po ganz weit nach hinten. Während wir drei uns noch fragten, was das wohl wird, ließ Moritz voller Genuss einen langen, lauten und ziemlich übel riechenden Pups fliegen. Seinem Gesichtsausdruck nach fand er es Klasse und dachte bestimmt, wir lachen mit ihm und nicht über ihn. Falsch gedacht! ;o) Kurz darauf kamen mich Sandra und Frida mit Oma besuchen. Frida ist schon fast zwei und ein richtiges Mädchen. Ich freue mich immer sehr Sandra zu sehen. Leider sind es nur wenige Tage im Jahr, aber Hamburg ist eben doch zu weit weg, um einfach nur mal so vorbei zu kommen. Trotzdem verstehen wir uns immer prima und haben viel zu erzählen. Und das finde ich schön! ;o)
Das Problem, keine Veränderungen um mich herum zu haben, macht mir wirklich extrem zu schaffen. Früher hatte ich oft und gerne Möbel umgestellt oder meine Räume umgestaltet. Seit ich jedoch auf Hilfe angewiesen bin, verändert sich nichts mehr. Da ich aber mit der gelben Wandfarbe meiner Küche ziemlich unzufrieden war und seit zwei Jahren gerne eine orange Wand haben wollte, versprachen mir meine Therapeuten Katja und Celine die Wände zu streichen. Am Samstag rückten sie beide mit Farbe, Pinseln, Rollen und Klebeband bewaffnet an. Vor und nach dem ersten Anstrich war ich ehrlich gesagt noch etwas skeptisch. Die Wand war total fleckig und zudem quietschorange! Als ich leise erste Bedenken anmeldete, drohte Celine, mich gleich auf der Terrasse zu parken. ;o) Ich zog es daraufhin vor, meinen Bedenken und Zweifeln durch wortloses Grimassenschneiden Ausdruck zu verleihen. Nach dem dritten Anstrich wurde es langsam der Farbton, den ich ausgesucht hatte, und nach dem vierten Mal war es perfekt. Zur Belohnung und als kleines Dankeschön haben wir danach lecker Sushi gegessen. Die beiden sind wirklich lieb und ich bin glücklich, dass wir uns gefunden haben. Sie sind mit mir auch schon zu Ikea gefahren oder sie bringen mir Sachen von Ikea oder H&M mit, und wenn es denn dieses Jahr noch mal schön wird, wollen Katja und ich ein paar meiner Leinwände bemalen. Ich habe nämlich einige Ideen, die ich gerne noch realisieren möchte. Überhaupt gibt es viele Dinge, die ich für mein Leben gern noch machen würde. Immer nur auf dem Sofa sitzen zu können ist nicht gerade die Erfüllung meiner Träume! ;o) Manchmal wundere ich mich, mit wie wenig "Leben" ich momentan zufrieden bin. Ich bin ziemlich sicher, dass insbesondere damit die meisten Menschen in meiner Situation mehr Probleme hätten. Irgendjemand hat mir mal gesagt, dass die schwierigsten Aufgaben im Leben immer nur den "stärksten" Menschen gestellt werden. In diesem Sinne versuche ich die ALS nicht als Bestrafung, sondern als eine Art Auszeichnung zu sehen.
Ich habe allerdings schon einige Male darüber nachgedacht, dass die meisten Menschen ja nicht mal den Hauch einer Ahnung haben, was es tatsächlich bedeutet ALS zu haben. Einen kleinen Einblick kann theoretisch jeder gesunde Mensch erhalten, wenn er sich einfach mal ein Wochenende lang von morgens bis abends wie ich aufs Sofa setzt. Jetzt wird der eine oder andere denken: „Auja, ein schönes, faules Wochenende auf dem Sofa!“, aber weit gefehlt! Hier kommen nämlich die Bedingungen, und die sind wahrlich kein Spaß. Für jede Bewegung der Arme oder Beine, für jede Veränderung der Position, für jedes noch so kleine Bedürfnis, egal ob es der Gang zur Toilette, Hunger oder Durst sind, ob es zu warm oder zu kalt ist, ob es irgendwo juckt, kitzelt oder krabbelt, egal ob die Nase läuft oder etwas im Auge sticht, ob das Fernsehprogramm umgeschaltet oder ein andere CD eingelegt werden soll, es muss immer jemand gerufen werden, der entsprechend hilft. Leider steht dieser jemand aber nicht abrufbereit hinter der Tür und natürlich hat die Person auch keine Lust und Zeit wegen jeder Kleinigkeit gerufen zu werden! Also müssen Prioritäten gesetzt und immer überlegt werden, ob das Problem oder Bedürfniss auch wichtig genug ist. Eventuell ist auch gerade niemand da, der helfen könnte oder derjenige ist beschäftigt und kann erst nach einer halben Stunde oder Stunde herkommen, um zu helfen. In diesem Fall heißt es geduldig und bitte immer gutgelaunt zu warten. ;o) Um zu verstehen, was es bedeutet ALS zu haben, muss das dabei entstehende Gefühl der totalen Hilflosigkeit, Abhängigkeit und Verzweiflung wahrscheinlich noch mit einhundert multipliziert werden, aber es ist immerhin ein kleiner Einblick. Als meine Freundin Kerstin sich nach der OP bei Moritz Geburt nicht wie gewohnt bewegen konnte, bekam sie eine vage Vorstellung davon, wie es ist Durst zu haben und die Apfelschorle zwar sehen, aber nicht erreichen zu können. Eine weitere Möglichkeit, um etwas mehr Gefühl für das Leben eines ALS-Betroffenen zu bekommen, ist die, einfach mal einen ganzen Tag im Rollstuhl zu verbringen. Schon die völlig veränderte Perspektive ist ziemlich lehrreich, weil jeder sehen wird, dass er, insbesondere an vollen Orten, praktisch nichts sieht. ;o) Aufgrund der tiefen Sitzposition fehlt jede Übersicht und eine Reizüberflutung ist vorprogrammiert. An einem Samstag in der Stadt gemütlich shoppen zu gehen wird im Rollstuhl schnell zum Horrortrip. Zu schmale Gänge, um überall durchzukommen, zu viele Menschen, um allen rechtzeitig auszuweichen und zu wenig geeignete Toiletten, um ohne Angst etwas trinken zu können. Natürlich können durch so ein „ALS-Wochenende“ oder einen "Rollstuhl-Tag" all die körperlichen Symptome wie die ständigen Muskelzuckungen, die Krämpfe, die gesteigerten Reflexe und die Spastik, die Muskelschwäche und die gesamte Anstrengung bei jeder noch so kleinen Bewegung nicht vermittelt werden. Auch die psychischen bzw. emotionalen Veränderungen und Belastungen können nicht nachempfunden werden.
Gerade die zunehmende emotionale Labilität macht mir aber besonders zu schaffen. Ich habe manchmal meine Emotionen überhaupt nicht mehr unter Kontrolle und plötzlich reagiert mein Körper mit Weinen auf Situationen, die nicht wirklich zum Weinen sind. Ich muss manchmal wirklich in Situationen weinen, in denen kein normaler Mensch weinen würde. ;o) Und ich meine es so, wie ich es sage: ich muss weinen! Trotz aller guten Vorsätze kann ich mich in diesen Momenten nicht kontrollieren oder steuern. Jedes falsche Wort bringt mich dann völlig aus der Fassung und alle anderen stehen oft hilflos und meistens auch etwas verständnislos daneben. Oft verstehe ich mich selbst nicht mehr, wie kann ich da erwarten, dass mein Umfeld mich versteht oder Verständnis für mein merkwürdiges Verhalten hat? In den letzten Wochen haben meine Eltern aber einen Pflegekurs bei der Krankenkasse gemacht, danach hat sich ihr Verständnis für meine Situation im Allgemeinen spürbar verbessert. Beispielsweise wusch mir meine Mutter plötzlich ohne die übliche Diskussion am Abend meine Hände. ;o) Bisher hatte sie nämlich immer argumentiert, ich würde am Tag eigentlich gar nichts anfassen und deshalb wäre das Händewaschen doch praktisch überflüssig. Naja, wenn ihre, Kerstins und Tinas Hände, die Hände meiner Therapeuten, meine Therapieliege, mein Haltegriff im Bad, meine Mouse, mein Taster der Umfeldsteuerung, mein Sofa, meine Klamotten, die Griffe des Rollators und Judys feuchte Schnauze nichts sind, hat sie natürlich Recht. ;o) Jedenfalls war seit diesem Tag die allabendliche Diskussion hinfällig, was ich sehr angenehm finde. Ihnen wurden auch verschiedene Techniken gezeigt, wie sie mich leichter und rückenschonender bewegen können, wenn ich passiv bin und nicht mithelfen kann. Außerdem stellt meine Mutter mir in Situationen, in denen ich schlecht sprechen kann, nun nicht mehr mehrere Fragen auf einmal, sondern fragt mich nacheinander kurze, einfache Fragen, die ich nur mit ja oder nein bzw. Kopfnicken oder -schütteln beantworten kann. Sie ist konzentrierter, verständnisvoller, hört mir mehr zu und hat - auch wenn sie mir helfen muss - irgendwie bessere Laune. Ich habe das Gefühl, dass sie die Pflege und Hilfe für mich nicht mehr so belastet und sie insgesamt viel entspannter ist. Als positiver Nebeneffekt läuft die ganze Pflege reibungsloser und somit auch viel schneller ab. Auch Kerstin ist diese Veränderung aufgefallen und sie freut sich genauso wie ich darüber. ;o)
Seit einigen Wochen bin ich auf der Suche nach einer neuen Pflegekraft als Ersatz für Sarah. Ich habe eine Anzeige geschrieben und sie unter anderem im Krankenhaus, in den Praxen meiner Therapeuten und in unserer Apotheke aufgehängt. Es meldeten sich mehrere Frauen, aber nach den ersten Gesprächen und dem ersten Kennenlernen fiel meine Wahl schnell auf Stefanie. Sie war mir sofort sympathisch. Stefanie ist 36, Krankenschwester auf der Intensivstation und sie suchte einen relativ flexiblen Nebenjob, also genau das, was ich zu bieten hatte. Wir waren uns gleich einig und vereinbarten Termine zum Einarbeiten. Beim ersten Mal schaute sie sich erstmal nur unseren Ablauf an. Kerstin und ich sind mittlerweile ein eingespieltes Team und verstehen uns fast ohne Worte. Die immer selben Abläufe geben mir Sicherheit und es ist wichtig, dass diese auch genauso eingehalten werden, wie ich sie gewohnt bin. Es wird zwar oft gesagt, jeder müsse es so machen, wie er es kann, aber dabei wird etwas Entscheidendes übersehen. Während alle Pflegekräfte es so machen können, wie es für sie am leichtesten ist, muss ich offenbar alles können und kann es nicht so machen, wie es für mich am leichtesten ist! ;o( Weil ich aber nur noch aktiv mithelfen kann, wenn die Abläufe wie gewohnt sind, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ich bleibe aktiv und wir machen alles so wie ich es noch kann, oder ich werde passiver und die jeweilige Pflegekraft muss mehr tun, um mich zu bewegen. Aus Angst vor einem zunehmenden Muskelabbau bei größerer Passivität entschieden wir uns dann doch für die erste Alternative. Stefanie war wohl etwas verunsichert, weil sie die Griffe und Techniken aus dem Krankenhaus bei mir nicht anwenden konnte. Sie hatte das Gefühl, dem Ganzen nicht gewachsen zu sein, und sagte mir am vierten Tag, dass sie mir doch nicht helfen könne. Ich war sehr enttäuscht und traurig und habe viel geweint. ;o( Es war schwer genug jemanden zu finden, mit dem ich derart intim zusammen sein konnte. Jetzt würde alles wieder von vorne losgehen, die Suche und der damit verbundene Stress, die Gespräche und die damit verbundene Aufregung, die Einarbeitung und die damit verbundene Anstrengung. Jede Einarbeitung kostet mich viel Kraft und ich bin danach jedes Mal deutlich schwächer. Nach einigen Wochen der erfolglosen Suche erzählte mir Kerstin eines Nachmittags, dass ihre Freundin Anette Interesse hätte mir zu helfen. Weil Kerstin schon häufiger von Anette und ihrem Freund Heiko erzählt hatte, war mir Anette irgendwie vertraut, ohne dass ich sie kannte. Wir vereinbarten ein erstes Treffen, und weil Anette mir sofort sympathisch war, kam sie gleich am nächsten Tag zum Einarbeiten. Da Anette keinerlei Erfahrungen im Pflegebereich hat, fiel es ihr deutlich leichter, die speziellen Griffe und Techniken zu erlernen. Ich war erleichtert endlich jemanden gefunden zu haben und hoffe, Anette bleibt! ;o)
Ziemlich erleichtert bin ich auch, dass ich seit Januar wieder Kontakt zu Sandra und Thomas habe. Sie haben mir auf meine „Weihnachtsmail“ geantwortet und seitdem mailen wir uns hin und wieder. In einer meiner Mails habe ich Thomas von meinem immer noch unerfüllten Wunsch einer eigenen Homepage erzählt. Kurz darauf schrieb er, dass er mir gemeinsam mit seinem Internetpartner eine Homepage schenken möchte! Ohhhhh, ich war so aufgeregt und habe mich riesig gefreut. ;o) Thomas meldete meine Homepage bei Detlef Soodmann, dem Inhaber der Internet & Serviceagentur „Wavetool", an und ich konnte diesem meine Vorstellungen bezüglich des Layouts per Mail mitteilen. Schon sein erster Entwurf war ein Volltreffer! Obwohl er mich nicht kannte, mich noch nie gesehen oder mit mir gesprochen hatte, schien er meinen Geschmack dennoch zu kennen. Genauso hatte ich mir das Design gewünscht. Ich konnte auch gleich mit dem Einstellen meiner Inhalte in Form von Texten und Bildern beginnen. In den nächsten Wochen habe ich tage- und nächtelang nur geschrieben, gelesen, korrigiert, überarbeitet, eingestellt, gelöscht, Bilder geladen und Kommentare verfasst. Aber ich habe auch viel nachgedacht, gelacht, geweint und gestaunt, an wie viele Kleinigkeiten, Gespräche, Gedanken und Gefühle ich mich genau erinnern kann. Detlef hat in der ganzen Zeit tapfer meine mit Fragen über Fragen gespickten E-Mails ertragen und geduldig beantwortet. Selbst die eine oder andere typische Frauenfrage brachte ihn nicht aus der Ruhe. ;o) Allerdings hat mein rechter Arm unter der vielen Schreiberei ganz schön gelitten. Er ist nicht nur insgesamt schwächer geworden, sondern zeigt auch deutliche Gebrauchsspuren. Beispielsweise habe ich am rechten Handgelenk eine Stelle, an der sich infolge der vielen Mousebewegungen tatsächlich fast Hornhaut gebildet hat. Die Zusammenstellung der Informationen und das Schreiben der Texte hat mich wirklich sehr viel Zeit und Mühe gekostet, aber es war und ist ein schönes Gefühl, wieder eine sinnvolle Aufgabe zu haben. Für mich ist das Schreiben wie eine Therapie und tut mir total gut. Ich habe außerdem so unglaublich viel Spaß dabei, dass ich Thomas und ungesehener Weise auch Detlef knutschen könnte! ;o)) Ich danke euch von ganzem Herzen.
Mitte Mai hatte ich 15-jähriges Abitreffen! Zwei ehemalige Mitschülerinnen hatten alle Leute in mühsamer Kleinarbeit ausfindig gemacht und angeschrieben. Adriane und Susanne haben das Treffen perfekt organisiert und sogar eine Homepage als gemeinsame Plattform erstellt. Seit meinem Abitur 1991 hatte ich eigentlich zu keinem aus dem Jahrgang richtig Kontakt. Seit etwa drei Jahren treffe ich mich aber mehr oder weniger regelmäßig mit Kerstin, die in der Schule nur als Guffel bekannt war. Etwa genauso lange kommt auch Celine hin und wieder zu mir, um mir als Ergotherapeutin oder als Freundin zu helfen. Nun meldeten sich noch einige andere Mädels und wir schrieben uns E-Mails, in denen wir wahrscheinlich mehr von einander erfuhren als während der gesamten Schulzeit. Gern wollten sie mich auch mal besuchen kommen. Ich schrieb ihnen von meinen Bedenken und Ängsten an dem Abitreffen teilzunehmen. Zum einen war ich nicht sicher, ob ich körperlich und seelisch stark genug dafür bin, zum anderen wollte ich nicht die Stimmung durch meine Anwesenheit drücken oder die anderen unter Druck setzen, in irgendeiner Form auf mich reagieren zu müssen. Obwohl mir alle Mut machten, entschied ich mich wie immer auf mein Bauchgefühl zu hören. Weil eine Teilnahme an dem Treffen für mich einfach zu aufregend und zu anstrengend gewesen wäre, erklärte ich sämtlichen Leuten des Jahrgangs in einer E-Mail meine Situation und bot ihnen an, mich vor dem eigentlichen Treffen bei mir zu Hause zu besuchen. Daraufhin bekam ich viele liebe Mails von den unterschiedlichsten Leuten aus aller Welt. Ich habe mich über jede Nachricht total gefreut, unabhängig davon, ob sie mir zu- oder absagen wollten bzw. mussten. Vor dem Treffen war ich ganz schön aufgeregt, weil ich nicht genau wusste, wie viele Leute tatsächlich kommen würden. Zum Glück war meine Freundin Kerstin bei mir, um mir zu helfen. Es war wirklich schön alle wieder zu sehen und ich habe mich super gefreut, dass doch so viele gekommen waren. Auch wenn ich mich leider nicht richtig mitteilen und mich kaum unterhalten konnte, wie ich es gern getan hätte, hatte ich viel Spaß und werde diesen Tag nie vergessen. Die meisten erkannte ich auch sofort, denn sie hatten sich kaum verändert, waren höchstens etwas reifer geworden. Das schönste Kompliment machte mir an diesem Tag – wahrscheinlich ohne es zu wissen – Adriane, indem sie mich zwischen allen anderen einfach nicht erkannte. "Wo ist denn Sandra???" Also sehe ich wohl doch noch nicht so "gehandicapt" aus, wie ich mich manchmal fühle! ;o) Vielen Dank für einen tollen Tag!
Auch nach dem Treffen passierten noch viele schöne Dinge. Zum einen bekam ich noch mehr liebe Mails von Leuten, die bei mir waren, aber auch von Leuten, die nicht kommen konnten. Zum anderen hatte Guffel bei dem eigentlichen Abitreffen mit meiner Kamera alle fotografiert, die ich noch nicht gesehen hatte, und ich habe nicht schlecht gestaunt, wie sehr sich doch einige verändert haben. Trotzdem ich während der Schulzeit nur mit Wenigen richtig Kontakt hatte, waren mir alle auf eine sonderbare Weise vertraut. Ich freue mich sehr darauf, mit einigen in Verbindung zu bleiben und vielleicht jetzt zu entdecken, was für wertvolle Menschen sich hinter dem bloßen Namen verbergen. Weil mir das Wiedersehen so viel Spaß gemacht hat, habe ich schon überlegt, ob ich eventuell an einem Tag im Monat ein festes Treffen bei mir zu Hause einrichte. Auch für meine Freunde wäre ein fester Treffpunkt sicherlich von Vorteil. Jeder wüsste dann, dass beispielsweise an jedem zweiten Samstag im Monat ab 18.00 bei mir „Tag der offenen Tür“ ist, und wer Zeit und Lust hat, kann einfach vorbeikommen. Mir würde es gefallen, hin und wieder etwas Leben in der Bude zu haben! ;o) Bemerkenswerter Weise bekam ich wenige Tage später eine Mail von Martin aus Stockholm, in der er mir von dem Buch "Dienstag bei Morrie" erzählte. Es handelt von einem an ALS erkrankten Professor, der jeden Dienstag von einem ehemaligen Studenten besucht wird. Die Gespräche mit dem Professor öffnen diesem wieder die Augen für die Dinge, die einem Leben Sinn und Erfüllung geben. Ich hatte schon von dem Buch gehört, kannte es aber noch nicht. Und plötzlich las ich, dass Martin es bereits für mich als Hörbuch bestellt hat! Ich war total platt und habe mich natürlich sehr gefreut. ;o) Nicht, weil er mir ein Geschenk macht, sondern viel mehr wegen der Gedanken und der Geste, die dahinter stehen. Diese sind nämlich unbezahlbar!
Unbezahlbar ist auch eine Freundin wie Kerstin zu haben. Wir kennen uns schon ewig und haben viele schöne Dinge zusammen erlebt. Wir haben oft gemeinsam trainiert und uns in verschiedenen Kursen im SFC verausgabt. Wir haben zusammen gefeiert, viel gequatscht und noch mehr gelacht. Als Kerstin noch bei der TUI in Hannover gearbeitet hat, sind wir oft und günstig zusammen in den Urlaub geflogen. Meistens haben wir einen ziemlich sportlichen Urlaub in einem Robinson-Club im sonnigen Süden gemacht. Wir hatten immer viel Spaß und teilen noch heute so manches Geheimnis. ;o) Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns mal richtig gestritten haben. Sicher sind wir nicht immer einer Meinung, aber wir schätzen und respektieren die Meinung des anderen. Seit meiner Erkrankung versucht Kerstin mir zu helfen, wo sie nur kann. Sie hört mir zu, wenn ich jemanden zum reden brauche, sie sagt was sie denkt, wenn ich einen Rat brauche und sie erledigt Dinge, die ich allein nicht mehr erledigen kann. Selbst als ich noch in Dortmund lebte, ist sie beispielsweise für mich in Wolfsburg, Braunschweig oder Hannover shoppen gegangen. Entweder hat sie die Klamotten persönlich zu mir gebracht oder sie hat sie meinen Eltern mitgegeben, wenn diese mich besuchen wollten. Da wir nicht nur dieselbe Größe sondern auch den gleichen Geschmack haben, gefielen und passten mir die meisten Klamotten auch und sie musste nichts umtauschen. Leider konnte ich Kerstin meinerseits infolge meiner Erkrankung immer weniger durch Taten helfen. ;o( Ich habe aber immer versucht, für sie da zu sein und ihr beizustehen, wenn sie mich braucht.
Insbesondere als es ihrem an Alzheimer erkrankten Vater in den letzten Wochen und Monaten zunehmend schlechter ging, hätte ich ihr gern mehr geholfen und beigestanden. Die Situation in den Pflegeheimen, in denen er zuletzt untergebracht war, war milde gesagt eine einzige Katastrophe. ;o( Kerstin hat sich fast zerrissen, bei dem Versuch, für ihren Vater zu kämpfen, sich um ihre Mutter zu kümmern, ihrem Job und ihrem Chef gerecht zu werden und dabei Olli, Moritz und sich selbst nicht völlig zu vergessen. Leider ist ihr Vater Mitte Mai relativ plötzlich gestorben. Und wieder konnte ich nur versuchen, Kerstin durch Worte zu helfen. ;o( Sie hat sich aber vorgenommen, den Leidensweg ihres Vaters in die Öffentlichkeit zu bringen, um auf die zum Teil sehr erschreckenden Zustände und Methoden in den Pflegeheimen aufmerksam zu machen. Ich hoffe, dass ich sie wenigstens dabei tatkräftig unterstützen kann. Wenn sie mir immer wieder neue, fast schon skandalöse Erlebnisse aus den Heimen schilderte, bin auch ich jedes Mal traurig und zugleich unendlich wütend geworden. Diese Ignoranz und Gleichgültigkeit, die vielen Demütigungen und die Würdelosigkeit, mit der die alten und kranken Menschen oftmals behandelt werden, sind schockierend! Ähnlich erschrocken war ich beispielsweise auch, als wir am 85sten Geburtstag meine andere Oma im Altenheim besucht haben. Obwohl es noch nicht Mittag war, saßen viele der älteren Leute im Speisesaal und warteten aufs Mittagessen. Einige hatten immer noch ihr Lätzchen vom Frühstück um und trotzdem wirklich etliche gemeinsam warteten, sprach niemand auch nur ein Wort. Alle starrten mehr oder weniger teilnahmslos vor sich hin. Auch mit unserem mitgebrachten Sekt und dem vorgetragenen Ständchen konnten wir die alten Leute nicht aus ihrer Lethargie holen, geschweige denn begeistern. ;o( Angeblich sei das „normal“ und jeden Tag so. Das Leben reduziert auf schlafen, essen und warten aufs Essen. Was ist das bitte für ein Leben? Manchmal bin ich fast froh nicht so alt werden zu müssen.
Andererseits kann ich natürlich gut nachvollziehen, dass die alten Menschen oftmals sehr abgestumpft, desinteressiert und teilnahmslos sind. Wenn man nicht mehr in der Lage ist, aus welchen Gründen auch immer, am Leben richtig teilzunehmen, verliert man mit der Zeit das Interesse am Leben. Es erfordert sehr viel Kraft, Energie und Engagement, um in einer solchen Situation im Leben drin zu bleiben und nicht an den Rand geschoben zu werden. Hinzu kommt das große Schamgefühl, sich zum Beispiel nach 80 Jahren plötzlich von fremden Menschen den Hintern abwischen zu lassen. Mit Sicherheit ziehen sich viele aus reinem Selbstschutz immer weiter zurück, um diese Dinge überhaupt ertragen zu können. Es war auch für mich unheimlich schwer, meine Abhängigkeit und die damit oft verbundene Erniedrigung zu ertragen. ;o( Mich von zunächst fremden Menschen an intimen Stellen waschen zu lassen, oder auch Hilfe anderer auf der Toilette zu benötigen, war besonders schlimm für mich. Mittlerweile kann ich es aber ganz gut aushalten und es gehört irgendwie einfach dazu. Die notwendige Pflege ist für mich Alltag und nichts Besonderes mehr. Daher ist es für mich am angenehmsten und einfachsten, wenn sie schnell und reibungslos abläuft. Schwierig wird es immer dann, wenn eine neue Pflegerin die Pflege übernimmt. Meistens sind sie zunächst sehr vorsichtig und zaghaft, so dass das Waschen eher an einen Streichelzoo erinnert, als an eine Waschanlage! ;o) Im Moment bin ich gerade dabei Anette, die nötige „Härte“ zu vermitteln und ihr die Sorge zu nehmen, mir weh zu tun. Es ist zwar schön, mich mal etwas verwöhnen zu lassen und mir vorzustellen, ich sei bei der Kosmetikerin, die mich eben nicht ruck zuck eincremt, sondern die Creme langsam und ganz zärtlich einmassiert. Aber jeden Tag bei der Kosmetikerin zu sein, ist auf Dauer doch etwas nervig und anstrengend. ;o)
Anstrengend ist auch nach wie vor das Schlafen und Umdrehen im Bett. In letzter Zeit habe ich wieder verstärkt Krämpfe in der Nacht, vor allem in den Waden und Füßen. Die Krämpfe kommen aber nicht plötzlich, sondern schleichen sich sozusagen langsam an. ;o) Erst nimmt die Muskelspannung kontinuierlich zu, bis der Muskel zu krampfen beginnt. Nach ein paar Minuten entspannt sich der Muskel genauso langsam wieder und entweder ist der Spuk danach vorbei, oder beginnt bei der kleinsten Bewegung von vorne. Naja, langweilig wird mir jedenfalls nicht! Ich war bis zu meiner Erkrankung eine passionierte Bauchschläferin. Als die ersten Probleme beim Drehen auftraten, habe ich umgeschult auf Seitenschläferin, weil schlafen in Rückenlage völlig unmöglich war. Nun schliefen mir aber in Seitenlage immer öfter meine Arme und Schultern ein. ;o( Was für ein blödes Gefühl! Plötzlich musste ich öfter und länger auf dem Rücken schlafen, als mir eigentlich lieb war. Anfänglich ging das gar nicht! Ich habe mich jede Nacht mehrfach von der Seite auf den Rücken und wieder zurück auf die Seite gekämpft. Aber seit ich mich nicht mehr selbständig vom Rücken zurück auf die Seite drehen kann und ich somit keine andere Wahl habe, als auf dem Rücken zu schlafen, geht es komischerweise prima. Es scheint also doch alles nur reine Kopfsache zu sein. Genauso ist es beispielsweise auch bei meinem neuen Lieblingsthema, der Toilette. ;o) Es ist wirklich so, auch wenn es sich total bescheuert anhört! Seit ich von der Hilfe anderer Menschen abhängig bin, ist – neben dem Essen und Trinken – der Gang zur Toilette ein zentrales Thema geworden. Ich muss jeden Tag planen, wann wer da ist, um mich zur Toilette zu begleiten, und dementsprechend viel oder wenig kann ich vorher trinken. Bei meinem normalen Tagesablauf ist es in der Regel unkritisch, weil sich meine Blase scheinbar schon auf die festen Zeiten eingestellt hat. Kritisch kann es aber manchmal werden, wenn mein gewohnter Rhythmus empfindlich gestört wird. Ich versuche zwar meine Blase zu trainieren und kann schon mal ein bis zwei Stunden warten, obwohl ich muss, aber Zirkusreif sind wir noch nicht! :o) Manchmal habe ich allerdings den Eindruck, alle denken, dass ich meine Blase perfekt dressiert habe und ihr sogar kleine Kunststücke beibringen kann, so dass sie auf Kommando das tut, was ich oder sie möchten. Wenn beispielsweise mein Latte Macchiato eher wieder nach Freiheit schreit als erwartet und ich Pipialarm nach oben funke, bekomme ich Fragen gestellt wie: „Warum musst du denn jetzt schon?“ Was soll ich darauf antworten? ;o) Allez hopp vielleicht!
Richtig blöde ist es natürlich, wenn so etwas passiert und niemand in der Nähe ist, um mir zu helfen. Generell muss ich dringender, wenn niemand da ist. Betritt dieser jemand aber den Raum, ist der Druck sofort deutlich geringer oder ich muss sogar überhaupt nicht mehr. Es ist also auch hier eine Kopfsache. Aber ich habe eine Lösung gefunden, zumindest für den Fall, dass ich am Laptop bin. ;o) Entweder schreibe ich eine E-Mail an jemanden, der online ist, oder ich schreibe vom Laptop eine sms mit der Bitte um Hilfe bzw. mit der Bitte jemanden zu informieren, der mir helfen kann. Allerdings habe ich auch schon ein paar Mal darüber nachgedacht, was ich in einem richtigen, eventuell sogar lebensbedrohlichen Notfall machen könnte. Ich habe zwar sowohl auf dem Sofa, als auch im Bett und auf der Terrasse einen Personenruf, aber der nutzt mir natürlich nur, wenn erstens jemand im Haus ist, und zweitens derjenige immer sofort auf den Pieper reagiert. Da ich diesen aber bisher vor allem als Melder für Pipialarm benutze, kann es manchmal etwas länger dauern, bevor jemand zu mir runter kommt. Aber was kann ich tun, wenn ich mich vielleicht derart heftig an meiner eigenen Spucke verschlucke, dass ich keine Luft mehr bekomme? Bin ich in einer solchen Situation überhaupt noch in der Lage, den Personenruf auszulösen? Und was passiert, wenn auf diesen erst nach einigen Minuten reagiert wird? Genauso frage ich mich, was passiert, wenn ich mich überhaupt nicht mehr im Bett drehen kann und ich nachts umgelagert werden muss? Kommt dann immer jemand her oder muss ich eine feste Nachtwache einstellen? Keine Ahnung! Es ist wirklich sehr beängstigend zuzusehen, wie eine Funktion nach der anderen verloren geht und ich in immer mehr Bereichen abhängig werde. Schon jetzt ist Denken das einzige, was ich noch genau so schnell kann wie vor der ALS. Und irgendwann wird es das einzige sein, was ich überhaupt noch kann. ;o(
Meine Homepage war mittlerweile fast fertig und mir fehlten eigentlich nur noch ein paar Texte von Freunden, Bekannten und Therapeuten sowie Fotos. Wenn ich gewartet hätte, bis ich alles zusammen habe, wäre ich wahrscheinlich heute noch nicht im Netz! ;o) Also schrieb ich einige „Schlafmützen“ nochmal an, darunter auch meinen Exfreund Stefan. Prompt bekam ich eine Antwort und er fragte mich, ob er mal wieder vorbei kommen könne. Wir hatten uns lange nicht mehr gesehen, denn 2004 war er nur zwei Mal ganz kurz hier und 2005 überhaupt nicht mehr. ;o( Mittlerweile lebte Stefan schon über zwei Jahre mit seiner neuen Freundin und einem neuen Job in einer neuen Wohnung in einer neuen Stadt. Er hatte mich zwar trotzdem regelmäßig besuchen kommen wollen, aber irgendwie blieb es bei dem guten Vorsatz. Jedenfalls kam er eine Woche nach unserem Mail-Kontakt tatsächlich vorbei. Judy hatte anfangs Probleme, sich an Stefan zu erinnern und bellte ihn erst mal kräftig an. Als sie ihn dann aber beschnupperte, gab es vor Freude überhaupt kein Halten mehr. Quiekend wie ein Schwein tanzte sie um ihn herum, vorne, hinten, durch die Beine,warf sich auf den Rücken und streckte alle Viere nach oben. Auch ich habe mich gefreut ihn zu sehen, zog es aber vor, meiner Freude etwas gemäßigter Ausdruck zu verleihen! ;o) Stefan schien erleichtert, dass mir die Schwere meiner Erkrankung und der ständige Fortschritt optisch nicht in dem Maße anzusehen waren, wie er es vermutlich erwartet hatte. Ich war gespannt, was ich bei seinem Anblick empfinden würde, ob ich überhaupt noch etwas empfinden würde und ob es trotz der langen Zeit wieder wehtun würde. Aber da war nichts außer einer schönen Erinnerung. Darüber war wiederum ich sehr erleichtert! Als ich ihm später stolz meine Homepage präsentierte, fühlte ich mich durch sein Lob bestärkt, die Seite so schnell wie möglich ins Internet zu stellen.
Wenige Tage danach war ich endlich online und bekam sofort viel positive Resonanz sowohl per Mail, als auch in den vielen lieben Einträgen in meinem Gästebuch, über die ich mich jedes Mal gefreut habe wie Bolle. ;o) Eine Homepage macht zwar viel Arbeit und ich habe meine liebe Mühe, alle E-Mails bzw. Gästebuch Einträge zu beantworten, aber es tut mir wirklich gut, meine Geschichte aufzuschreiben. Vielleicht sollte ich doch mal darüber nachdenken, ein Buch zu schreiben! Meine Mutter konnte sich nicht vorstellen, dass meine doch sehr ausführliche Geschichte überhaupt jemanden interessieren könnte. Ich wollte aber so offen und ehrlich wie möglich beschreiben, was es tatsächlich für den Betroffenen bedeutet ALS zu haben, welche Probleme, Ängste und Gedanken entstehen und gleichzeitig zeigen, dass es trotzdem noch Spaß und Freude am Leben geben kann. :o) Umso mehr freue ich mich über das große Interesse und die Anteilnahme. Besonderes schön finde ich, dass meine Homepage auch andere Betroffene erreicht und ich ihnen vielleicht etwas Mut geben kann. Die Gewissheit mit seinen Problemen nicht alleine zu sein, kann im täglichen Kampf eine Hilfe sein und macht vieles erträglicher. So geht es mir jedenfalls! Ich habe durch meine Homepage außerdem viele schöne Erfahrungen gemacht. Ich habe nicht nur Menschen wieder gefunden, die ich für viele Jahre aus den Augen verloren hatte, sondern bin auch von mir völlig fremden Menschen durch ihr Mitgefühl, ihre Hilfsbereitschaft und ihr Engagement überrascht worden. :o) In den nächsten Wochen bekam ich immer mehr Post! Einige Betroffene schrieben mir, dass sie genauso fühlen wie ich, dass sie dieselben Probleme, Gedanken und Ängste haben und dass ich ihnen voll aus dem Herzen spreche. Ich hatte oft vor lauter Freude Tränen in den Augen, denn ich hatte so sehr gehofft, mit meinen offenen Worten genau das zu erreichen und vielleicht sogar Dinge auszusprechen, die für viele Betroffene schwer in Worte zu fassen sind. Aber ich erhielt auch viel lieben Zuspruch von Angehörigen, die dankbar waren zu erfahren, wie ein Betroffener empfindet – obwohl die Empfindungen natürlich individuell sehr unterschiedlich sein können! Einige fanden es hilfreich zu lesen, was mich zum Beispiel nervt, ärgert oder verletzt oder was sie eventuell im Umgang falsch machen können ohne es eigentlich zu wollen. Sie waren erleichtert, dass bestimmte Probleme und Verständnisschwierigkeiten nicht nur bei ihnen vorhanden sind, sondern dass mein Umfeld dieselben Schwierigkeiten hat oder hatte. Für mich als abhängigen und hilflosen, aber dennoch erwachsenen Menschen sind neben Vertrauen, Verständnis, Geduld und Ruhe vor allem mein Wille bzw. Einverständnis bei allem, was mit und an mir oder auch für mich gemacht wird, besonders wichtig. Das Gefühl anderen Menschen vollkommen ausgeliefert zu sein, mich weder durch Worte, noch durch Taten wehren, verteidigen oder schützen zu können, ist eins der schrecklichsten Gefühle überhaupt. Natürlich möchte jeder Angehörige, jede Pflegekraft und alle sonstigen Helfer nur helfen und alles was sie tun, ist ganz bestimmt immer gut gemeint. Aber manchmal ist das Gegenteil von gut eben gut gemeint! ;o)
Wie in einer Partnerschaft auch, sind es nicht die großen Dinge, die mich nerven oder auf Dauer besonders schwer zu ertragen sind, als viel mehr die vielen kleinen Dinge. Ein gutes Beispiel ist das Essen. Es hat mich ziemlich gestört, wenn jemand gesagt hat, dass ich “gefüttert“ werde, oder noch schlimmer, wenn ich tatsächlich wie ein Baby gefüttert wurde! Wenn also etwas vom Essen im Mundwinkel hängen blieb, wurde es schön mit dem Löffel abgefangen und mit einem kräftigen Rechts-Links-Schwung gefühlsmäßig nur noch weiter im Gesicht verteilt. ;o) Genauso fand ich es nicht schön, wenn mein Essen aussah wie schon einmal gegessen, weil bereits in der Küche alles miteinander vermengt wurde und ich nicht mehr erkennen konnte, was ich da eigentlich esse. Kartoffelbrei, Spinat und Spiegelei waren ein einziges Einerlei. Klar, im Magen kommt eh alles zusammen, aber auch mein Auge isst schließlich mit! Zum Glück konnte ich diese Dinge relativ schnell “abschaffen“. Mehr Probleme bereitet es mir allerdings, mein Essen vor den Zwei-Finger-Attacken meiner Ma zu schützen! :o) Es macht mich wahnsinnig, wenn sie mit den Worten „Ich probiere auch mal, wie das schmeckt“ mit ihren Fingern in meinem Essen rumsucht, um zu probieren. Nicht, dass ich ihr nicht gern etwas abgegeben würde, aber eine Frage vorab und eine eigene Gabel wären doch irgendwie schön. Wenn ich schon im Augenwinkel sehe, wie sie sich mit ausgestreckten Daumen und Zeigefinger meinem Teller nährt, würde ich am Liebsten "draufhauen" und ein drohendes „Na!“ ausstoßen. ;o) Leider bin ich für beides zu schwach und zu langsam. Auch beim Kauen und Schlucken bin ich anscheinend zu langsam. Denn während ich noch kaue oder schlucke, wird mir oft schon die nächste volle Gabel vor den Mund gehalten. Nicht nur, dass ich mich dadurch ziemlich gehetzt fühle, es nervt mich einfach!!! Natürlich weiß ich, dass alles keine böse Absicht ist, aber ich möchte einfach wie ein erwachsener Mensch behandelt werden und nicht wie ein Kind bzw. nicht anders als man sich selbst oder andere auch behandeln würde. :o) Diese Kleinigkeiten sind für sich genommen sicher nicht mal erwähnenswert, aber bis zu drei Mal am Tag an 365 Tagen im Jahr strapazieren sie meine Nerven doch ganz schön. Daher arbeite ich daran, sie nach und nach abzustellen.
Mal abgesehen von solchen Kleinigkeiten geht es mir nach wie vor relativ gut und ich kann eigentlich keine gravierenden Verschlechterungen feststellen. Dennoch gibt es leichte Veränderungen, die mir das Leben etwas erschweren. Besonders bei großer Wärme und stehender Luft, fällt mir das atmen etwas schwerer. Ich habe das Gefühl, jemand sitzt auf meinem Brustkorb und merkwürdiger Weise fällt mir meine Atmung immer öfter auf bzw. höre ich meinen eigenen Atem plötzlich ganz bewusst. Früher habe ich jedenfalls meine Atmung nicht derart oft bemerkt oder an sie gedacht. Außerdem bemerke ich, dass ich zunehmende Probleme beim Schlucken habe. Ich muss oft mehrmals schlucken, um die Nahrung tatsächlich runterschlucken zu können. Manchmal denke ich, jetzt ist es endlich weg, und wenn ich den Mund für die nächste Ladung öffnen will, plopp, ist es doch wieder oben. Als ob hinten im Rachen ein kleiner Hakan sitzt und sagt: „Ey du! Du kummst hier net rein!“. ;o) Vielleicht habe ich auch deswegen das Gefühl, dass mein Speichelfluss weiter zugenommen hat. Ich muss zumindest häufig bewusst meine Spucke sammeln und schlucken, um zu vermieden, dass sie mir infolge des verminderten Lippenschluss aus dem Mund läuft. Das hasse ich nämlich! Natürlich, „es ist doch nur Spucke“, aber das sagt sich leicht, solange sie einem nicht selbst aus dem Mund läuft! ;o) Wenn es Moritz nicht die Bohne stört, dass ihm die Spucke vom Kinn tropft, und mich schon, dann könnte es durchaus daran liegen, dass ich 34 Jahre älter bin! Neben dieser Problematik fallen mir aber auch einige körperliche Veränderungen stärker auf. Während meine Hände schon lange relativ knochig sind, zeichnen sich mittlerweile auch an der Unterseite meiner Unterarme Elle und Speiche deutlich ab. Außerdem habe ich mich früher immer gefragt, warum man bei einer offensichtlich runden Schulter von einer Schulter-Eckgelenk-Sprengung spricht. Heute bin ich schlauer! ;o)
Am Sonntag waren wir bei Nina und Mirko zum Kaffeetrinken eingeladen und weil es schön und warm war, sind wir zum ersten Mal in diesem Jahr mit dem Fahrrad gefahren. Auch hier musste ich leider eine deutliche Schwächung der Nackenmuskulatur feststellen. Mein Kopf schaukelt bei jeder Pedalumdrehung hin und her. Selbst wenn ich den Kopf an die Kopfstütze lehne, ändert sich praktisch nichts, außer dass er dann nicht hin und her, sondern vor und zurück schaukelt. ;o) Wahrscheinlich muss ich für längere Touren meinen Kopf irgendwie fixieren. Allerdings bezweifle ich, dass mir eine Radtour mit festgeschnalltem Kopf überhaupt noch Spaß machen würde. Also werde ich versuchen, den Kopf nicht allein mit Muskelkraft, sondern zudem mit meinem großen Willen zu halten. Leider klappt das aber auch nur bis zu einem bestimmten Punkt. Denn schon oft musste ich die ernüchternde Erfahrung machen: Je mehr ich etwas will, desto weniger geht es! ;o( Möchte ich eine Bewegung unbedingt ausführen, kann ich mich noch so sehr anstrengen, ich bekomme das Bein einfach nicht nach vorn oder den Arm nicht hoch. Denke ich aber vorher gar nicht darüber nach bzw. mache die Bewegung “einfach“ wie immer, klappt es deutlich besser und ich muss mich viel weniger anstrengen. Manchmal führe ich sogar unbewusst eine Bewegung aus und wundere mich im Nachhinein wie ich das überhaupt gemacht habe! Ich konnte schon öfter die Erfahrung machen, dass bestimmte Bewegungen durchaus noch möglich sind, obwohl sie eigentlich nicht mehr ausgeführt werden können. Das klingt im ersten Moment etwas merkwürdig, aber mir geht es gut und ich habe auch nicht zu lange in der Sonne gelegen! ;o) In einigen Situationen nutze ich zum Beispiel die ohnehin schnell vorhandene Körperspannung aus. Wenn ich Probleme habe den Kopf anzuheben, versuche ich durch Anspannen beider Arme sowie der Schultern, des gesamten Oberkörpers und Rückens die Hals- und Nackenmuskulatur zu unterstützen. Am Besten erreiche ich diesen Spannungsaufbau, indem ich beide Arme streckte und auf den Beinen abstütze. Eine weitere Möglichkeit ist das gezielte Ausnutzen der unvermeidlichen Körperanspannung beim Gähnen. In diesem kurzen Moment kann ich zum Beispiel die Arme viel höher heben als sonst oder sogar meinen leicht nach hinten gefallenen Kopf ohne Hilfe nach vorn holen. Weil ich manchmal immer noch regelrechte Gähnanfälle habe, nutze ich diese häufig, um selbstständig meine Position zu verändern.