Interview mit Sandra
Was waren deine ersten Symptome und Gedanken?
Im Oktober 1999 bekam ich plötzlich ohne körperliche Anstrengung heftige Wadenkrämpfe und stolperte ohne ersichtlichen Grund. Mein rechter Fuß war merkwürdig langsam und ich entwickelte eine deutliche Fußheberschwäche. Natürlich dachte ich mir zunächst nichts dabei und führte diese Dinge auf meine ausgepowerte Situation infolge der Diplomarbeit zurück. Ich wurde mit der Zeit jedoch immer unsicherer auf den Beinen, hatte Koordinationsprobleme und bekam erste Probleme beim Laufen. Ab und zu stürzte ich sogar grundlos. Zudem war ich schneller erschöpft, hatte oft das Gefühl von allgemeiner Schwäche und musste mich bei allem was ich tat mehr anstrengen. Außerdem traten bereits zu Beginn bulbäre Symptome auf, eine Sprechstörung und im weiteren Krankheitsverlauf auch eine Kau- und Schluckstörung. Ich wurde unsicher im Umgang mit mir selbst und anderen, ich schämte mich für meine Schwäche, für mein Unvermögen, für meinen nicht mehr richtig funktionierenden Körper.
Wie kam es zur Diagnosestellung?
Das Sprechen fiel mir in den folgenden Wochen immer schwerer, meine Zunge war seltsam steif und unbeweglich und ich konnte plötzlich nicht mehr pfeifen, Luftballons aufblasen und mit einem Strohhalm trinken. Außerdem bemerkte ich, dass sich meine Arme bzw. Finger der rechten Hand bei bestimmten Bewegungen und Handgriffen auch anders anfühlten als früher. Nach der Schilderung meiner gesamten Symptomatik bestanden die Ärzte der HNO-Klinik in Dortmund auf eine neurologische Abklärung. Im April 2000 war ich für eine Woche in der Neurologie und es wurden viele Untersuchungen gemacht – zwei Lumbalpunktionen zur Entnahme von Nervenwasser aus dem Rückenmarkskanal, Messung des Lungenvolumens, Messung der Nervenleitgeschwindigkeit, EMG, MRT, Kernspin, Röntgen, mehrere Urin-, Stuhl- und Blutuntersuchungen usw. Am 29. April 2000 erhielt ich mit meinem Freund Stefan die Diagnose ALS, die ich zwar hören, aber nicht sofort verstehen oder begreifen konnte.
Wie hat dein Leben durch die Diagnose verändert?
Die Nachricht, eine Krankheit zu haben, deren Ursache und Abläufe unbekannt sind, die nicht heilbar oder therapierbar ist und die mit einer durchschnittlichen Überlebenszeit von drei bis fünf Jahren immer tödlich verläuft, war ein großer Schock für mich. Ich musste mein Studium kurz vor dem Abschluss abbrechen, meinen über alles geliebten Sport aufgeben und sämtliche Zukunftspläne verwerfen. Die ALS nahm mir sowohl die Chance auf ein Berufsleben und eine Karriere als auch auf eine eigene Familie und Kinder. Mein Freund Stefan hat mich zwei Jahre nach der Diagnose verlassen und ich war gezwungen wieder zurück zu meinen Eltern nach Wolfsburg zu ziehen. Nach und nach habe ich meine Selbstständigkeit verloren, ich wurde immer hilfloser und abhängiger von der Hilfe anderer und damit auch von ihrer Zeit, Lust und Geduld. Nichts in meinem Leben ist mehr so wie es mal war, wie es sein sollte!
Was waren deine schlimmsten Erfahrungen?
Am Anfang der ALS, als die Symptome noch nicht offensichtlich, aber dennoch auffällig genug waren, um die Aufmerksamkeit der Menschen zu erregen, habe ich mich schrecklich geschämt. Ich wurde in der Öffentlichkeit ständig beobachtet, die Leute steckten die Köpfe zunehmende und tuschelten oder lachten über mich, meinen unsicheren Gang, meine lallende Aussprache. Ein paar Mal bin ich sogar als „Besoffene“ beschimpft worden, was mich sehr verletzt hat. Ich fühlte mich schuldig für etwas, für das ich überhaupt nichts konnte. Ich wollte mich in der Öffentlichkeit immer ganz normal und unauffällig verhalten, aber je mehr ich es versuchte, desto mehr Aufmerksamkeit erregte ich. Meine zunehmende Schwäche, meine Krankheit, meine „Behinderung“ ließ sich nicht mehr verbergen und die Menschen behandelten mich oft so, als wäre ich auch geistig gehandicapt. Sie sprachen ganz deutlich, sehr laut und langsam mit mir oder behandelten mich wie Luft. Im Laufe meiner Erkrankung habe ich aber gelernt mit der ALS zu leben und mich deswegen nicht zu verstecken.
Was bedeutet es ALS zu haben?
Die einfachsten und selbstverständlichsten Dinge werden unglaublich anstrengend, bis sie irgendwann nicht mehr oder nur mit Hilfe anderer Menschen, Hilfsmittel oder medizinischer Geräte möglich sind. Laufen, Treppensteigen, stehen, aufstehen und hinsetzen, Autofahren, an- bzw. ausziehen, waschen, schlafen, etwas tragen oder aufheben, greifen und festhalten, schreiben, umblättern, telefonieren, mit Messer und Gabel essen, kauen, schlucken, trinken, sprechen, atmen. Es ist sehr deprimierend und beängstigend zuzusehen, wie eine Funktion nach der anderen verloren geht und ich in immer mehr Bereichen abhängig werde. Schon jetzt ist denken das einzige, was ich noch genauso schnell kann wie vor der ALS – und irgendwann wird es das einzige sein, was ich überhaupt noch kann. Doch was ist das Denken ohne die Möglichkeit, diese Gedanken äußern zu können? Oft rede, diskutiere, fluche und streite ich in Gedanken, aber das macht keinen Spaß und Sinn. ALS zu haben bedeutet alles zu wollen, aber im wahrsten Sinne des Wortes nichts mehr zu können. ALS zu haben bedeutet seine Bedürfnisse reduzieren, auf viele Dinge verzichten, viel Geduld mit sich selbst und noch mehr Geduld mit anderen haben zu müssen. Das normale Leben wird zu etwas Besonderem, wertvoll und erstrebenswert. Der Verlust meiner Selbstständigkeit, Selbstbestimmung, Privat- und Intimsphäre, das ständige Abschiednehmen, Loslassen und Annehmen Müssen hat mir gezeigt, wie reich und schön mein Leben vor der ALS doch war.
Welche Menschen und Hilfsmittel helfen dir?
Nach der Trennung von meinem Freund musste ich zurück zu meinen Eltern nach Wolfsburg ziehen, die mich zum Glück wieder bei sich aufnehmen konnten und wollten. Sie bauten eine Ebene im Haus für mich um und ich bekam eine eigene Wohnung. Neben meinen Eltern und meiner Schwester helfen mir meine beiden Pflegekräfte Kerstin und Anette sowie meine Haushaltshilfe Tina bei der Bewältigung meines Alltags. Außerdem erleichtern mir zahlreiche Hilfsmittel und selbst kreierte Tricks das Leben. Insbesondere zu Beginn der ALS musste ich sehr erfinderisch sein, um die kleinen Ungeschicklichkeiten und Schwächen zu kompensieren. Klettverschlüsse oder Haken und Ösen statt Knöpfe, ein Schlüsselring am Reißverschluss-Häkchen oder ein eingenähtes Gummiband erleichterten das selbstständige An- und Ausziehen. Schneidebretter mit integriertem Messer, Besteck mit einer Griffverdickung oder eine Schraubhilfe helfen beim Essen und Trinken. Kunststoffbecher sind leichter zu heben als Gläser und dicke Stifte sind besser zu halten als dünne. Im Krankheitsverlauf nimmt jedoch die Abhängigkeit von anderen Hilfsmitteln zu. In der Wohnung bewege ich mich mit Hilfe eines Gehwagens, außerhalb mit meinem Rollstuhl bzw. auch mit einem speziellen Rollstuhl-Fahrrad. Meinen Laptop kann ich noch über die Maus mit Hilfe einer Bildschirmtastatur steuern. Über eine Umfeldsteuerung kann ich meinen Fernseher, CD- und DVD-Player mit nur einem Taster bedienen. Ebenso kann ich über einen Personenruf meine Eltern per Pieper rufen, falls ich Hilfe benötige. Zum Umblättern von Büchern habe ich zunächst einen Fingerhut aus Gummi benutzt, heute habe ich ein Blattwendegerät, das die Seite per Tasterdruck umblättert.
Welche Medikamente, Therapien und Verhaltensweisen sind deiner Meinung nach wirksam?
Welche Medikamente mir wirklich helfen kann ich nicht beurteilen, weil ich nicht weiß, wie mein Krankheitsverlauf ohne diese Medikamente gewesen wäre. Ich lebe aber schon über sieben Jahre mit der ALS und das ist deutlich länger als die meisten Betroffenen. Daher bin ich überzeugt, dass sich mein „Medikamenten-Cocktail“ aus insgesamt 13 Tabletten positiv auf meinen Verlauf auswirkt. Ich nehme neben Rilutek auch noch hochdosiertes Vitamin E, Schmerztabletten, Anti-Depressiva und seit einigen Wochen Schlaftabletten. Außer leichten Hautveränderungen und Müdigkeit habe ich keine Nebenwirkungen. Seit der Diagnose habe ich täglich Ergotherapie bzw. Physiotherapie. Durch die mangelnde Bewegung und die einseitige Belastung bestimmter Muskelgruppen kommt es zur Versteifung von Gelenken und zu extremen Muskelverspannungen. Deshalb ist das Durchbewegen und Dehnen aller Gelenke und Muskeln sehr angenehm und beugt zudem schmerzhaften Muskelkrämpfen und Spasmen vor. Halteübungen und Übungen gegen einen leichten Widerstand fördern neben dem Bewegungseffekt auch die Muskeldurchblutung. Die Übungen müssen immer an die aktuelle körperliche Situation angepasst und eine Überanstrengung oder Muskelkater sollten unbedingt vermieden werden. Sowohl körperliche als auch seelische Überanstrengung und Stresssituationen können den Verlauf der ALS enorm beschleunigen. Ich musste mein Leben komplett verändern und bestimmte Verhaltensweisen beachten lernen. Stress bedeutet für mich jede Form von Öffentlichkeit, fremde Menschen, unbekannte Orte oder Räumlichkeiten sowie jeder noch so kleine Zeitdruck. Daher ist es wichtig einen festen Tagesablauf zu haben, sich für alles genug Zeit zu nehmen und diese auch einzuplanen, Ruhephasen einzuhalten, auf sein Bauchgefühl zu hören und zu lernen Nein zu sagen, wann eine Aktivität allein beim Gedanken daran innerlich Stress, Angst oder Unwohlsein auslöst.
Wie ist deine momentane körperliche Verfassung?
Ich kann nur unter großer Anstrengung sprechen, meine Stimme klingt verwaschen, sie ist sehr undeutlich, kraftlos und eher leise. Nur wenige Menschen können mich noch verstehen, trotzdem muss ich oft alles mehrfach wiederholen bzw. das, was ich sagen möchte, mit anderen Worten ausdrücken oder buchstabieren. Auch das Essen ist mittlerweile eine anstrengende und zunehmend kraftraubende Angelegenheit. Ich kann zwar noch fast alles essen, allerdings verschlucke ich mich hin und wieder und bekomme heftige Hustenanfälle. Seit 2006 habe ich manchmal leichte Probleme mit der Atmung und große Probleme meinen Kopf stabil oben zu halten. In meinen Händen, Armen und Schultern ist der Kraftverlust aber am deutlichsten und ich hatte bereits zu Beginn der ALS erhebliche Probleme mit der Geschicklichkeit bzw. Feinmotorik meiner Hände. Heute kann ich meine Arme kaum noch heben, meine Finger nicht mehr kontrolliert und isoliert bewegen, nichts mehr greifen oder festhalten und ich brauche bei allem Hilfe von anderen. Auch meine Beine verloren langsam ihre Kraft, mein Gang wurde unsicher und schwankend, ich stürzte häufig, aber ich konnte bis 2004 noch mit Hilfe eines Rollators gehen. Mittlerweile bin ich auf einen Rollstuhl angewiesen und kann nur noch wenige Minuten stehen ohne Muskelkater zu bekommen.
Wie gestaltest du heute dein Leben?
Mein Leben hat sich enorm reduziert, es besteht im Wesentlichen aus schlafen, Morgen- und Abendpflege, Therapie, Toilette, essen und trinken, der „Arbeit“ am Laptop, Fernsehen, Musikhören und gelegentlichem Besuch. Mein Tagesablauf sieht so aus: Täglich um 8.30 kommt meine Pflegekraft Kerstin zur Morgenpflege, also Toilette, waschen, anziehen, Zähneputzen usw. Nach einer knappen Stunde werde ich auf meine Therapieliege gelegt und habe für etwa 45 Minuten Physio- bzw. Ergotherapie. Danach setze ich mich auf mein Sofa, wo ich den ganzen Tag verbringe. Hier bekomme ich Frühstück, meine Tabletten, anschließend meinen Laptop und dann bin ich drei Stunden ohne Betreuung. Dank der Bildschirmtastatur kann ich in dieser Zeit selbstständig und ohne Hilfe im Internet surfen, meine Homepage aktualisieren oder E-Mails schreiben. Parallel kann ich mit Hilfe der Umfeldsteuerung meinen Fernseher, CD- und DVD-Player bedienen. Nachmittags trinke ich mit Hilfe meiner Helfer einen Latte Macchiato und esse Kuchen. Danach ruhe ich mich etwas aus, „arbeite“ erneut am Laptop oder schaue fern. Manchmal besuchen mich auch Freunde. Nach dem Abendessen und der Abendpflege verbringe ich den Rest des Abends vor dem Fernseher oder am Laptop, ehe ich von meinen Eltern ins Bett gebracht werde. Am nächsten Morgen geht alles wieder von vorne los – und täglich grüßt das Murmeltier!
Wie kannst du mit der ALS leben?
Ich kann nicht, ich muss mit dieser Krankheit leben! Es hat mich niemand vorher gefragt, ob ich stark genug bin für diesen Kampf. Ich habe gelernt nicht gegen die ALS zu kämpften, sondern für mein Leben, ich versuche mich über das zu freuen, was ich noch kann, anstatt um das zu trauern, was ich nicht mehr kann. Das gelingt natürlich nicht immer, aber immer öfter. Meine ganze Lebenseinstellung hat sich durch meine Erkrankung verändert. Ich lebe mehr im Hier und Jetzt, ich stelle mich der Situation und laufe nicht mehr vor ihr davon (kann ich ja auch gar nicht!) oder schiebe sie endlos vor mir her und ich mache mir bei allem was ich tue weniger Gedanken um die Meinung anderer Leute. Ich habe weniger Angst, Dingen vielleicht nicht gewachsen zu sein und die in mich gesetzten Hoffnungen und Erwartungen nicht erfüllen zu können. Ich habe gelernt mir selbst zu vertrauen, mich auf mich zu verlassen und zu erkennen wer oder was mir gut tut – oder eben nicht. Ich habe mehr Selbstvertrauen und weniger Angst, ich bin mehr Optimist und weniger Pessimist, ich sehe mehr Stärke und weniger Schwäche – und das alles in meiner „schwächsten“ Lebensphase! Irgendjemand hat mir aber mal gesagt, dass die schwierigsten Aufgaben im Leben immer nur den "stärksten" Menschen gestellt werden. In diesem Sinne versuche ich die ALS nicht als Bestrafung, sondern als eine Art Auszeichnung zu sehen.